Keine Experimente? Warum Verwaltungen experimentieren sollten

Nichts mögen große Organisationen im Allgemeinen – und Verwaltungen im Speziellen – weniger als Unsicherheit. Gerade die öffentliche Verwaltung ist darauf ausgerichtet, Unsicherheit zu vermeiden. Das Rechtsstaatsprinzip sieht vor, dass sich Verwaltungshandeln jederzeit an Recht und Gesetz hält und damit prognostizierbare Ergebnisse produziert. Wer alle Anforderungen für den Bezug von Elterngeld erfüllt, erwartet zurecht, dass sein Antrag auch bewilligt wird. Selbst in den Bereichen, in denen das Recht der Verwaltung einen Handlungsspielraum zugesteht (das s.g. Ermessen), gibt es ausgeprägte Regelwerke, um die Nutzung dieses Spielraums möglichst gleichförmig auszugestalten.

Verwaltungen sind also darauf bedacht Unsicherheit zu vermeiden und dies liegt auch in unserem ureigenen Interesse. Es verringert die Gefahr von Willkür und Korruption.

Das Streben nach Minimierung von Unsicherheit hat allerdings zwei Schattenseiten. Zum einen führt es zu einer unglaublichen Fülle an Regelungen, da eine große Zahl von Einzel- und Sonderfällen berücksichtigt werden muss (Stichwort: Bürokratie) und zum anderen erschwert eine Kultur, die Unsicherheit mit allen Mitteln vermeidet, das Ausprobieren und Erlernen neuer Wege. Dies ist jedoch in einer Welt, die sich sehr schnell wandelt und ständig neue Möglichkeiten bietet, eine Voraussetzung für effektives Verwaltungshandeln.

Eine Möglichkeit diese Lernprozesse zu systematisieren und Unsicherheit in einem abgegrenzten Rahmen zuzulassen, sind Experimente. Manch einer mag dabei an den berühmten Adenauer Slogan denken: „Keine Experimente!“. Ich möchte Sie dennoch dazu einladen, einmal näher über Experimente im Verwaltungsalltag nachzudenken.

Der LHC am CERN
Nicht jedes Experiment muss so komplex sein wie der LHC am CERN. (Foto: Arpad Horvath, Lizenz: CC BY-SA 3.0

Was ist eigentlich ein Experiment? Ein Experiment testet eine Fragestellung systematisch und in einer möglichst kontrollierten Umgebung. Ein gutes Experiment gibt eine Antwort auf die gestellte Frage und schließt durch sein Design möglichst viele alternative Antworten aus. Im Verwaltungsalltag kann eine Frage lauten, „Funktioniert X besser als Y?“, „Ist die neue Idee, die wir haben, besser als die alte Methode?“ oder „Welche von zwei Optionen ist die bessere?“

Ein mögliches Beispiel aus dem Verwaltungsalltag: Eine Kommune versendet jährlich eine große Zahl an Hundesteuerbescheiden. Im Nachgang kommt es jedes Jahr zu einer großen Zahl von Nachfragen bei der Kommunalverwaltung. Die Kommune möchte nun durch beilegen eines Informationsblattes die häufigsten Nachfragen vermeiden. Statt allen Bescheiden dieses Schreiben beizulegen, könnte die Kommune ein Experiment durchführen und zufällig der Hälfte der Schreiben dieses Informationsblatt beifügen. Nach Versand der Bescheide werden alle Rückfragen anonymisiert vermerkt. Durch Abfrage der Steuernummer oder Rückfrage, ob ein Informationsblatt beiliegt, kann protokolliert werden, wie viele Anfragen von Bürgern stammen, die ein Informationsblatt erhalten haben und wie viele von Bürgern ohne Informationsblatt stammen. Die Auswertung beantwortet schließlich die Frage, ob sich der Mehraufwand und die Mehrkosten für das Informationsblatt bezahlt machen.

Um ein solches Experiment detailliert zu planen und durchzuführen empfehlen sich darüber hinaus weitere Gedenken, die Amy Gallo in ihrem Artikel „A Refresher on Randomized Controlled Experiments“ im Harvard Business Review sehr anschaulich zusammenfasst:

  1. Entscheiden Sie, was die abhängige Variable ist. Im obigen Beispiel ist das die Anzahl an Rückfragen auf den Hundesteuerbescheid
  2. Legen Sie die Grundgesamtheit fest, über die Sie Aussagen treffen wollen. In unserem Fall wären das die hundesteuerpflichtigen Bürger der Kommune
  3. Fragen Sie sich selbst, was Sie mit Ihrem Experiment herausfinden wollen. Was ist die Nullhypothese (in unserem Fall: Das Informationsblatt hat keinen Einfluss auf die Zahl der Rückfragen)? Was ist die Alternativhypothese (in unserem Fall: Das Informationsblatt verringert die Anzahl der Rückfragen)?
  4. Denken Sie über alle möglichen Faktoren nach, die Ihr Experiment verfälschen könnten. Gibt es in unserem Fall beispielsweise Stellen, die ebenfalls Bürgeranfragen beantworten und eingeweiht sein müssen?
  5. Fertigen Sie ein Protokoll an, das alle Schritte des Experiments detailliert ausführt.
  6. Gibt es die Möglichkeit eine kleine Vorstudie durchzuführen?
  7. Überarbeiten Sie das Protokoll auf Basis der Vorstudie.
  8. Führen Sie das Experiment durch und halten Sie sich so strikt wie möglich an das Protokoll.
  9. Analysieren Sie die Ergebnisse und halten Sie die Augen nach unerwarteten Ergebnissen offen.

Ein Experiment muss also nicht gleich die ganze Organisation umkrempeln. Es bietet aber die Möglichkeit, kleine oder größere Veränderungen zu testen und durch Zulassen einer kontrollierten Dosis von Unsicherheit, neue Wege zu beschreiten und Verwaltungshandeln zu optimieren.

Für weitere Informationen zu Experimenten lohnt sich neben dem bereits zitierten Artikel von Amy Gallo der illustrative Artikel zu Experimenten im Organisationsumfeld von Oliver Hauser und Michael Luca. James Guszcza, Josh Bersin, & Jeff Schwartz haben darüber hinaus einen interessanten Beitrag zu evidence-based Human Ressource Management verfasst. Auch hier im Blog kamen schon einige Male Experimente vor. Zum Beispiel zur Optimierung von Steuerbescheiden in Großbritannien.

Sie arbeiten in der Verwaltung und haben weitere Fragen zu Experimenten im Verwaltungsalltag? Sie wollen ein eigenes Experiment umsetzten und suchen nach Unterstützung? Sie benötigen wissenschaftliche Begleitung bei einem Experiment? Dann kontaktieren Sie mich gerne.

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